Humans and Demons
Wird Russlands mörderischer Krieg in der Ukraine ewig dauern? Könnte uns ein weiteres zoonotisches Virus in den Lockdown schicken? Droht eine bösartige KI die Menschheit zu ersetzen, oder erwischt uns der Klimawandel zuerst? Es gibt keine Patentlösungen, die verhindern, dass sich die vielen Krisen der Gegenwart ausbreiten. Friedensaufrufe könnten angesichts überwältigender Gegenkräfte Untätigkeit unterstützen. Aufrichtige Plädoyers für ein Ende jahrhundertelanger Unterdrückung könnten lediglich weitere Euphemismen für Ungleichheit hervorbringen. Gedankengebäude oder politische Haltungen, die auf alten Trennungen bestehen, geraten angesichts unserer sich auflösenden Welt ins Wanken.
Genauso gibt es keine einfachen Antworten auf die ethischen Fragen, die sich täglich auftun, wenn es hart auf hart kommt. Das Überleben könnte unmöglich werden, ohne eine Grauzone zu betreten, in der die gewalttätigsten und dämonischsten Eigenschaften der Menschheit zum Vorschein kommen. Eine Grauzone, in der gleichzeitig Kompromisse möglich sind und man selbst an der Schwelle des Todes noch verhandeln kann – zu einem bestimmten Preis. Wir kennen solche moralischen Zwickmühlen aus dem 20. Jahrhundert und seinen nie ganz vergessenen und verdrängten Episoden politischer Gewalt, die den offensichtlichsten Katastrophen unserer Zeit zugrunde liegen.
Es war Primo Levi, der diese Situation am ausführlichsten beschrieben hat. Er argumentierte, dass die Überlebenden weder moralisch immun noch direkt schuldig sind. Im Raum zwischen Opfer und Täter, schreibt Levi, „ist das Böse ansteckend. Ein Unmensch entmenschlicht die anderen Menschen, jedes Verbrechen hat seine Ausstrahlung, pflanzt sich in seiner Umgebung weiter, verdirbt das Gewissen der anderen, umgibt sich mit Komplizen, die es sich mit Hilfe der Angst oder der Verführung aus dem Gegenlager holt. Für ein kriminelles Regime wie den Nazismus ist es typisch, unser Urteilsvermögen zu entkräften und durcheinanderzubringen. Ist der schuldig, der auf der Folter Aussagen macht? Oder der, der tötet, um nicht selbst getötet zu werden? Oder der Soldat an der russischen Front, der nicht imstande ist, zu desertieren? Wo sollen wir die Linie ziehen, die … den Schwachen vom Schändlichen trennt?“1
Dieses Zitat von Primo Levi hat, wie viele andere, einen starken Bezug zu unserer Zeit. Die Art des Bösen, die er erlebt hat, flammt heute mit aller Macht wieder auf. Ein kriminelles Regime wie das Wladimir Putins greift ständig unser Urteilsvermögen an, indem es Ambivalenzen schafft und als Waffe einsetzt. Ansteckend und verführerisch steht das Gespenst der verdrängten Gewalt aus den Ruinen einer früheren Moderne auf, als Erinnerung, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöst wurde. Doch das Böse nimmt auch neue Formen an; vielleicht ist seine klassische Gestalt – maßlos, sadistisch, zerstörerisch – weniger schädlich als der Gehorsam, der dem Wunsch nach einer dämonenfreien Welt entspringt. Umso wichtiger ist es, die Linie zwischen den Schwachen und den Schändlichen in den Grauzonen zu ziehen, durch die sich Menschen im wirklichen Leben bewegen, zu zeigen, wie sie mit den Dämonen und Geistern um sie herum umgehen können.
Dazu ist die Literatur vielleicht besser geeignet als klassische Abhandlungen darüber, was richtig und falsch ist. Eine Geschichte – im Gegensatz zu einem Thema oder gar einer Position – bedeutet ein Prozess mit einem Ziel. Aber es geht auch um die vielen Umwege, die auf dem Weg dorthin gemacht werden, um etwaige Fallen und Kompromisse. Das Erzählen kann Nuancen einfangen, die terminologisch gerüsteten Expert:innen entgehen. Die zeitgenössische Kunst behandelt ihre Fragen oft als Situationen, mit denen es korrekt, einer Parteilinie folgend umzugehen gilt und die als Schemas in Umlauf gebracht werden. Können Geschichten eine Alternative bieten?
Erzählen bildet einen Gegenpol zum abstrakten Moralisieren: Im Grunde geht es darum, vom Werdegang allzu menschlicher Figuren (weder Engel noch Dämonen) zu berichten, die in Konflikte geraten und in Kontakt mit ansteckenden Übeln kommen. So etwas wie Unschuld gibt es dabei nicht. Tragik kann willkürlich sein, das Überleben absurd, und in den Tiefen der Hölle kann es sogar lustig zugehen. Geschichten werden weder erzählt, um die Realität zu relativieren oder alles mit allem zu vergleichen, noch um Probleme fluide und mehrdeutig zu machen. Das Publikum wird vielleicht aufgefordert, seine Ungläubigkeit auszusetzen, aber nie sein Urteilsvermögen.
Als würde sie einen Fortsetzungsroman schreiben, widmet sich die heurige Ausgabe des steirischen herbst figurenzentriertem Erzählen und erschafft eine lebendige Welt mit einer Reihe von unwahrscheinlichen, fast märchenhaften Protagonist:innen, real oder erfunden. Sie sind weder Held:innen noch Bösewicht:innen großer literarischer Gattungen, sondern gehören eher zu einem kleinen, widerständigen Genre. Sie sind gaunerhaft, resilient, fehlerhaft, vielleicht auch ein wenig komisch, und ähneln den charismatischen Figuren des Schelmenromans – einer Prosagattung, die im Europa des 16. Jahrhunderts auftauchte, bevor der Roman (und sein Förderer, das Bürgertum) seine volle Macht entfaltete.
Die frühesten Beispiele des Schelmenromans waren antiklerikale und sozialkritische Erzählungen, deren kauzige Protagonisten sich in einer aus den Fugen geratenen Welt mehr oder weniger ehrlich durchschlugen. Die Gattung entstand in Spanien nach der Reconquista und enthielt Elemente des antiken römischen Romans, der arabischen Makame sowie slawischer Volksmärchen über Vagabunden und Prostituierte. Sie zeigte mit dem Finger auf die Korruption der Kirche und weltlichen Autoritäten. Ihre Helden waren jedoch keine Heiligen. Ihr Weg führte sie wie Don Quichotte zu einer Form des Anti-Heldentums, die in äußerster Not als eine der fröhlicheren, trotzigen Seiten des Überlebens und des Widerstands bekannt ist, manchmal zu einem tragischen Preis.
Diese Gattung, die am Übergang zwischen Mittelalter und Moderne und an den Grenzen von West-, Süd- und Osteuropa entstand, ist eine realistische in einem Umfeld, in dem das Ancien Régime in vielerlei Hinsicht fortbesteht. Die „gute alte Zeit“ strukturiert weiterhin die symbolische Topografie einer Stadt wie Graz. Ihre höchsten Punkte sind die privilegierten Hügel und der Schloßberg, ihre tiefsten die trockengelegten Sumpflandschaften an der Mur, wo ungesunde Luft und ständige Überschwemmungen einst dafür sorgten, dass das Leben kurz und elend war. Die vormoderne Grundstruktur der Stadt wird von der Architektur und Geschichte jüngerer Epochen überlagert, von denen einige selig und glorreich waren – als Österreich eine europäische Großmacht war –, andere wiederum verhängnisvoll und offen gewalttätig. Aber die Grundstruktur bleibt erhalten.
Der steirische herbst ʼ23 fügt diesem städtischen Palimpsest eine weitere Schicht hinzu. Seine Figuren und Kunstwerke aktivieren das dämonische Imaginäre eines immer noch irgendwie mittelalterlichen Schauplatzes, ungleich mit der Gewalt der Moderne verbunden. Vier Gruppenausstellungen und ein dichtes Programm an Performances und Diskussionen bieten fantasiereiche Anknüpfungspunkte, um Graz und seine Welt neu zu entdecken – und dabei den scheinbar unbedeutenden, unheimlichen, manchmal merkwürdig optimistischen Geschichten der Stadt zu lauschen.
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- Primo Levi, Vorwort zu Die Nacht der Girondisten, von Jacques Presser, übers. Mirjam Pressler (Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 1991).
Der steirische herbst ’23 wird kuratiert von Ekaterina Degot, David Riff, Pieternel Vermoortel, Gábor Thury, Barbara Seyerl und geschaffen von allen teilnehmenden Künstler:innen, Sprecher:innen und Partnerinstitutionen sowie dem gesamten Festivalteam.