steirischer herbst
Von Anfang an gehören produktive Störung und fruchtbarer Streit zum steirischen herbst – zu einer Institution, die während ihres gesamten Bestehens immer wieder Anstoß für kritische Gespräche lieferte. Seit seiner Gründung vor einem halben Jahrhundert bietet das Festival neuen Produktionen eine Plattform, die öffentliche Debatten unterschiedlicher Art und quer durch alle Disziplinen und Medien hervorrufen und konturieren. Stets hat der steirische herbst die begrifflichen Grundlagen, was Kultur für das Zeitgenössische – wie wir es in Graz, der Stadt mit der zweitgrößten Bevölkerungsdichte Österreichs, vorfinden – bedeuten könnte, neu definiert.
Gegründet wurde der steirische herbst im Schlüsseljahr 1968. Er entstand aus Opposition zum Wiedererstarken nationalistischer Kulturinitiativen, die zu jener Zeit an Einfluss gewannen. Ein solches Gründungsmoment bezog sich auf die Tradition der internationalen Moderne in Musik, Theater und den bildenden Künsten – auf eine Tradition also, welche die Nazis drei Jahrzehnte zuvor als „entartet“ klassifiziert hatten – sowie auf die Überzeugung, dass sie (immer noch) ein Bollwerk gegen die tiefsitzenden Restbestände totalitärer Mentalität in der Welt zu sein vermöchte. Mit der unerwarteten Wucht eines Erdbebens erschütterte der steirische herbst die Szene und markierte in einer Region, die so stolz auf ihren Wein und ihre Früchte war, einen Schnitt, der quer durch die gesund-bekömmliche Vorstellung einer kulturellen „Herbsternte“ verlief. Der steirische herbst verzauberte, verwirrte und schockierte das Publikum, riss es aus der scheinbar beschaulichen Selbstgefälligkeit heraus, die in der früheren Altershauptstadt der Habsburgermonarchie herrschte.
Und was den steirischen herbst im Verlauf seiner Geschichte in der Tat so einzigartig gemacht hat, ist seine Bindung an die Steiermark und die Stadt Graz. Das Festival war auf Initiative der lokalen Szenen entstanden und spielt bis heute eine wichtige Rolle bei der Etablierung von Netzwerken. Regelmäßig wurden Werke gezeigt, die sowohl die uneinheitliche Gegenwart wie auch die komplexe, manchmal beunruhigende Vergangenheit von Graz ausloteten. Indem es viele, wenn nicht die meisten, ihrer Kulturräume aktivierte, hat das Festival die Stadt und die Region als Text lesbar gemacht, wobei jedes Jahr neue Kapitel aufgeschlagen wurden.
Von Beginn an zeichnete sich der steirische herbst als eines der wenigen interdisziplinären Festivals der Welt aus, lange bevor es Mode wurde, diese Bezeichnung überzustrapazieren. Die unterschiedlichen Ausgaben des Festivals haben den Dialog zwischen den Künsten durch Kombination ästhetischer Positionen und theoretischer Reflexionen befördert und auf diese Weise bildende Kunst, Musik, Kunst im öffentlichen Raum, Theater, Performance, Neue Medien, Literatur und alles, was dazwischen liegt, einbezogen, wobei das Hauptaugenmerk auf das eine oder andere Gebiet in den verschiedenen Jahren variierte. Dieser Punkt bleibt auch heute für den Festivalansatz von zentraler Bedeutung, weil damit Arbeiten betont werden, die sich weigern, sich gemäß der Regeln und der herkömmlichen, voneinander abgegrenzten, kulturellen Felder festlegen zu lassen.
Unter der Intendanz von Ekaterina Degot, die den steirischen herbst seit 2018 leitet, setzt das Festival den Spirit der bei seiner Gründung herrschenden Zusammenarbeit fort und bleibt seinem Fokus auf internationale Breite und lokale Tiefe treu. Es will langfristiges Engagement und die Produktion neuer Arbeiten, die auf gründlicher Forschungsarbeit fußen, pflegen und unterstreicht urbane und regionale Narrative in ihrer zuweilen grotesken Beziehung zu globalen Prozessen. Seine zentralen Projekte können als eine große Ausstellung verstanden werden – als ein Parcours –, dessen Elemente zeit- und ortsspezifisch sind und neue Möglichkeiten aufzeigen, gesellschaftliche Räume zu bewohnen und sich von den Geschichten, die diese erzählen, vereinnahmen zu lassen.
Der Schwerpunkt sozialer und politischer Dringlichkeiten in Österreich geht Hand in Hand mit internationaler Ausrichtung. Integraler Bestandteil des Festivals in seinen frühen Jahren war die Dreiländerbiennale trigon, die nach der polygonartig verlaufenden Dreiländergrenze zwischen Österreich, Italien und dem früheren Jugoslawien benannt war. Während sich heute Ungleichheit und Nationalismus sowohl in Ost- wie Westeuropa ausbreiten, scheint es von entscheidender Bedeutung, das Interesse für die Suche nach Verbindungspunkten und Solidarität erneut zu wecken. Gerade das Gefühl der Grenzlage, wie man es in der Steiermark – manchmal schmerzlich, manchmal wohlig-bequem – erfahren kann, begünstigt die Sensibilität für andere Grenzregionen, wo die Normalität der globalen Weltordnung in all ihrer Surrealität und unheimlichen Seltsamkeit an deren Rändern auftaucht.
Der steirische herbst verfolgt ein kritisches Anliegen und unterstützt Praktiken, die engagiert und engagierend sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Festival einfach eine Plattform alternativer Politik wäre. Vielmehr versucht es jedes Jahr aufs Neue die Stadt in eine Bühne zu verwandeln. Auf ihr entfaltet sich das einzigartige phantasievolle Potenzial der Kunst – ihre Fähigkeit, zügellose Geschichten zu erzählen und ihre Gestalt zu verändern, unmögliche Mutmaßungen anzustellen und poetische Witze zu machen.